von Jasper u. Linus Mührel, Quelle: Verfassungsblog vom Oktober 2025
Aus unsrer Sicht könnte hier genauso treffend stehen „Frieden im Angesicht des Absurden“ und deshalb teilen wir diesen Artikel aus dem Verfassungsblog vom Oktober 2025 mit Euch / mit Ihnen!
Heute vor 80 Jahren, nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Die Welt lag in Trümmern. Erschöpft vom Krieg und mit Erleichterung, Hoffnung und Entschlossenheit wollte man ein System aufbauen, das eine solche Zerstörung in Zukunft verhindern würde – auf der Grundlage des Völkerrechts. Die Charta symbolisierte das gemeinsame Versprechen der Menschheit, Krieg durch Verpflichtungen, Dialog und Diplomatie zu ersetzen. Heute scheint sich die Kluft zwischen diesem Versprechen und den düsteren Realitäten zu vergrößern. Weit davon entfernt, das Rückgrat einer internationalen Weltordnung zu bilden, erscheint das Völkerrecht in diesen Tagen oft an den Rand gedrängt, ignoriert oder instrumentalisiert. Angesichts des irrationalen Verhaltens verschiedener Akteure und der großen Diskrepanz zwischen ihrem Handeln und ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen, lässt sich die aktuelle Situation wohl treffend als „absurd“ beschreiben, d.h. entgegen aller Vernunft und dem gesunden Menschenverstand.
Für viele Völkerrechtler*innen – ob Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen oder Studierende – ist dies nicht nur eine intellektuelle Herausforderung. Es trifft den Kern ihrer professionellen Identität. Das Recht, das sie studieren, verteidigen und an das sie glauben, wird regelmäßig mit Füßen getreten. Gerade unter jungen Völkerrechtler*innen dürfte sich Desillusionierung breit machen. Worin liegt der Sinn, seine Zeit dem Völkerrecht zu widmen, wenn nicht Ordnung und Regeln, sondern Absurdität den Lauf der Welt bestimmt? Mit dieser Frage setzen sich derzeit viele Völkerrechtler*innen auseinander. Dabei schwanken sie zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen Zuversicht und Verzweiflung, zwischen „business as usual“ und Neuvermessung, zwischen Utopie und Dystopie.
Wir schlagen eine Haltung gegenüber der gegenwärtig erfahrenen Absurdität vor, die keine dieser Gemütslagen entspricht. Wer Völkerrechtler*innen dabei helfen kann, Sinn in ihrem Fach zu finden, ist der französische Philosoph Albert Camus. In seinen Werken skizziert Camus einen Weg, trotz der offensichtlichen Absurdität der Welt eine würdevolle und humane Haltung zu bewahren. Besonders deutlich wird dies in seinem Essay „Der Mythos des Sisyphos“, erstmals veröffentlicht im Oktober 1942 – drei Jahre vor Inkrafttreten der UN-Charta. Mit Rückgriff auf Camus’ Neuinterpretation des Sisyphos möchten wir Völkerrechtler*innen eine Haltung anbieten, die auf die (aktuelle) Absurdität weder mit Optimismus noch mit Pessimismus reagiert und sich damit weder in Hoffnung noch in Verzweiflung verliert. Stattdessen schlagen wir vor, dem Absurden mit nüchternem und stetigem Widerstand zu begegnen.
Die Erkenntnis des Absurden führt allerdings nicht notwendigerweise zu Nihilismus. Das Absurde zu erkennen, bedeutet nicht, aufzugeben, sondern ohne Illusion zu leben. Camus fordert, sich weder falscher Hoffnung noch Resignation hinzugeben. Hoffnung verspricht eine zukünftige Lösung, die nicht erreichbar ist; Resignation akzeptiert die Niederlage und raubt dem Leben seinen Sinn. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, das Absurde anzuerkennen – und mit ihm zu leben.
Daraus folgen drei Konsequenzen: Revolte, Freiheit und Leidenschaft. Revolte ist die Weigerung, sich zu unterwerfen, das Beharren darauf, trotz Sinnlosigkeit zu leben und zu handeln. Sie „gibt dem Leben seinen Wert. Erstreckt sie sich über die ganze Dauer einer Existenz, so verleiht sie ihr ihre Größe.“ Freiheit entspringt der Abkehr von Illusionen: Wenn die Zukunft keine Garantie birgt, ist man frei, ohne ihre Fesseln zu handeln. Leidenschaft schließlich bedeutet, das Leben in seiner Intensität zu bejahen, ohne es durch einen letzten Sinn rechtfertigen zu wollen. Um diese Haltung zu illustrieren, greift Camus auf die griechische Mythologie zurück.
Sisyphos, von den Göttern für seinen Widerstand bestraft, ist dazu verdammt, einen schweren Felsblock einen Berg hinaufzurollen, nur damit er jedes Mal kurz vor dem Gipfel wieder hinabrollt. Für alle Ewigkeit muss er diese aussichtslose Aufgabe wiederholen. Traditionell wird der Mythos als Geschichte der Verzweiflung gelesen: Es gibt keine schlimmere Strafe als endlose, sinnlose Arbeit.
Völkerrechtler*innen fühlen sich beim Hören dieser Geschichte vielleicht gelegentlich an ihr eigenes Schicksal erinnert. Die gegenwärtige Missachtung und Ohnmacht des Völkerrechts und seiner Institutionen zeigen, dass Rückschritte oft mühsam errungene Fortschritte zunichtemachen. Das Völkerrecht verteidigen und weiterentwickeln zu wollen, mag da als eine nutzlose und hoffnungslose Übung erscheinen. Völkerrechtler*innen stehen in dieser Situation – wie Sisyphos – am Fuß des Berges mit dem Fels, den sie erneut hinaufrollen müssen. Sie stellen sich vor, wie eine ideale internationale (Rechts-)Ordnung aussehen könnte, und werden von Melancholie und Verzweiflung ergriffen. „Das ist der Sieg des Fels, ist der Fels selber.“
Trotz des scheinbar offensichtlichen Elends des Sisyphos verleiht Camus diesem Schicksal bekanntlich eine positive Wendung. Für ihn ist Sisyphos der absurde Held. Der entscheidende Moment, so Camus, ist nicht der Aufstieg, sondern der Abstieg. Die Stunde, in der er zu dem Fels hinabsteigt, der so gewiss zurückkehrt wie sein Leid, ist „die Stunde des Bewusstseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.“ Für Camus ist klar: Auch wenn der Abstieg manchmal im Kummer geschieht, liegt darin doch Sisyphos’ stille Freude. „Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“ Er hofft nicht auf Erlösung; er ergibt sich nicht der Niederlage. Sisyphos revoltiert gegen das Absurde. In dieser Revolte liegt Freiheit. Sisyphos wird von seiner Aufgabe nicht mehr erdrückt, weil er sie sich zu eigen macht. „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Diese Perspektive regt dazu an, das Selbstverständnis und Selbstbild von Völkerrechtler*innen zu überdenken. Camus’ Deutung des Sisyphos legt nahe, dass Völkerrechtler*innen akzeptieren müssen: Das Völkerrecht hat nie und wird niemals die Menschheit überall und jederzeit vor dem Übel retten können. Es wird immer wieder scheitern. Aber das bedeutet nicht, dass es sich nicht lohnt, es zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Und vielleicht sollte genau so die Disziplin des Völkerrechts begriffen werden. Camus’ Sisyphos zeigt, dass Würde nicht vom Erfolg abhängt, sondern von Beharrlichkeit. Zugegeben, dies ist kein heiteres Unterfangen. Wie Camus warnt, kommt die Erkenntnis des Absurden nicht ohne Preis. Wer sich des Absurden bewusst wird, „bleibt für immer daran gebunden“ und „hat keine Zukunft mehr“. Doch das ist „in Ordnung“ – und verschiebt den Fokus auf das, was wir in der Gegenwart tun können.
Völkerrechtler*innen müssen – wie Sisyphos – das Absurde an ihrer Aufgabe erkennen, ohne der Verzweiflung zu erliegen, und stattdessen leidenschaftlich danach verlangen, „alles Gegebene auszuschöpfen“. Ihr Auftrag ist es nicht, ewigen Frieden zu erreichen, sondern fortwährend gegen eine Welt zu revoltieren, die von Gewalt und Grausamkeit inhärent durchdrungen ist; gegen eine internationale Gemeinschaft, in der Machtpolitik, Ungleichheit und Ungerechtigkeit stets ihren Platz haben werden. Ihre Revolte – die kontinuierliche Verteidigung und Weiterentwicklung des Völkerrechts im Angesicht von Rückschlägen – ist an sich wertvoll, unabhängig davon, ob die großen Versprechen des Völkerrechts eingelöst werden können, die jenseits ihres persönlichen Einflussbereichs liegen. Handlungen sind wichtiger als Ziele. Diese Haltung kann es Völkerrechtler*innen ermöglichen, auch im Angesicht des Absurden frei und mit Leidenschaft in ihrer Disziplin zu arbeiten.
Am 80. Geburtstag der UN-Charta ist die Krise des Völkerrechts – einschließlich der Charta selbst – real. Die Kluft zwischen seinen Versprechen und der Wirklichkeit ist groß und wird es wohl bleiben. Doch ist dies kein Grund für Verzweiflung und Resignation. Es ist vielmehr eine Einladung, die Profession des Völkerrechts in neuer Weise zu begreifen. Der Fels wird immer wieder hinabrollen. Aber der Akt des Hinaufrollens bleibt eine Erklärung des Widerstands und der Freiheit. Der Fels ist schwer – doch es ist unser Fels. Und so können wir uns Völkerrechtler*innen – wie Sisyphos – als glückliche Menschen vorstellen.
Ja, und stellen wir uns alle, die sich für Frieden engagieren, ebenso als glückliche Menschen vor!